Skip to content
edition-leoedition-leo
    • Startseite
    • Sortiment
      • Die Schuld
      • Ein starker Abgang
      • Ella
      • Vergriffen
      • Das Versprechen
      • Der Pfeil
      • Winterreise
    • Kontakt
    • Shop

      Der Psy­cho­the­ra­peut Simon Voll­mann ist fas­zi­niert von einer Kli­en­tin und kämpft mit sei­nen Gefüh­len. Es fällt ihm immer schwe­rer die Gren­ze zu wah­ren, eine Bezie­hung zu ihr wäre ein ekla­tan­ter Ver­stoß gegen sei­ne Berufs­ord­nung und könn­te ihn sei­ner Exis­tenz­grund­la­ge berau­ben. Doch dann neh­men die Ereig­nis­se einen unge­ahn­ten Verlauf.

      Gebun­de­ne Aus­ga­be 256 Seiten

      Bestel­len
      • Impressum
      • AGB
      • Widerrufrecht
      • Datenschutzerklärung
      2022 © edition-leo.de
      • Startseite
      • Sortiment
        • Die Schuld
        • Ein starker Abgang
        • Ella
        • Vergriffen
        • Das Versprechen
        • Der Pfeil
        • Winterreise
      • Kontakt
      • Shop

      Teil 1 - Simon

      Die Begegnung

         »Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber«, murmelte er im Aufwachen. Rhabarber? Warum hatte er von Rhabarber geträumt? Ausgerechnet Rhabarber! Den hatte er noch nie gemocht. Seine Mutter hatte im Frühjahr oft Rhabarberkuchen gebacken oder ein Kompott hergestellt. Eigentlich hatte sie vorgehabt, alle Rhabarberrezepte aus einem Kochbuch zuzubereiten. Doch er hatte den säuerlich-bitteren Geschmack nie gemocht, daran hatte auch der oft bemühte Spruch, dass sauer lustig mache, nichts geändert. Die gelb-grünen bis rötlichen von gleichfarbigen Fäden umgebenen ein Zentimeter langen Stücke, die in einer ekelerregenden Schleimsuppe herumschwammen, hatten ihn immer abgestoßen. Und immer hatte er sich nicht getraut, seinen Teller auf dem Tisch zurückzuschieben, um so sein Missfallen auszudrücken. Was auf dem Tisch steht, wird gegessen; er konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er diese Ermahnung und die damit verbundene Strafandrohung – falls man sich dieser eisernen Regel widersetzte – gehört hatte. Stattdessen aß er das Kompott mit wettbewerbsverdächtiger Geschwindigkeit und glaubte, auf diese Weise, die übelschmeckende Marter möglichst schnell hinter sich bringen zu können, bevor sich der widerliche Geschmack auf seinen Papillen ausbreiten konnte. Später hatte er herausgefunden, dass er sich einfach die Nase zuhalten musste, die Riechzellen somit ausgeschaltet waren und er endlich nicht mehr mit einem kaum zu unterdrückenden Würgereiz zu kämpfen hatte.

         Er war heilfroh, als er endlich der gnadenlosen mütterlichen Rhabarberfürsorge entwachsen war.

         Warum hatte er also ausgerechnet von Rhabarber geträumt? An den genauen Inhalt seines Traums konnte er sich nicht erinnern. Vielleicht hatte er auch gar nicht geträumt oder konnte sich den Traum nicht ins Gedächtnis rufen. Fest stand, er war mit diesem Wort aufgewacht. Aber warum genau dieses?

         »Nutzlose Beschäftigung«, brummte er, drehte sich auf die andere Seite, tastete nach Rebekka, doch deren Bettseite war leer, sie war, wie jedes Jahr, mit Freundinnen auf die Insel Rab in Urlaub gefahren. Sie mieteten sich dort Fahrräder und umrundeten die Insel zu viert – zum wievielten Male?

         Er dämmerte im Halbschlaf weiter vor sich hin, bevor er sich endgültig entschloss aufzustehen.

         Immer noch suchte ihn das Wort heim und je mehr er sich seiner zu entledigen trachtete, desto weniger gelang es ihm.

         Nun gut, dann halt Rhabarber, wird schon seinen Grund haben. Er setzte die Füße auf den kalten Boden, angelte nach seinen Hausschuhen, fluchte, weil er sie – wie immer – zu weit unter das Bett geschoben hatte. »Mist«, brummte er, ging auf die Knie und zog die Schuhe unter dem Bett hervor.

         Auf dem Weg zum Bad ging er kurz in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein.

         Im Badezimmer fluchte er laut. Er hatte wie immer unter der Dusche den Warmwasserhahn weit aufgedreht, und zu langsam reagiert, als das heiße Wasser endlich in die Zuleitung einschoss. Instinktiv sprang er rasch zur Seite, wäre beinahe in der Duschwanne ausgerutscht und hatte sich im letzten Moment noch am Wasserhahn festhalten können, der natürlich genau auf der Seite heiß geworden war, wo er ihn zu fassen bekommen hatte.

         Er trocknete sich ab, verspürte wie jeden Morgen einen unstillbaren Kaffeedurst, der keinerlei Aufschub duldete und schritt eher schleppend in die Küche. Und fluchte erneut. Zwar hatte sich die Maschine eingeschaltet; den Hinweis, dass sie zu entkalken sei, übersah er seit Tagen, doch das Display blinkte und verlangte, dass der Wassertank gefüllt werden müsse. Hatte er das nicht erst gestern getan? Aber die Antwort erschien ihm genauso sinnlos, wie die Antwort auf die Frage wie der Rhabarber in seinen Traum hineingekommen war. Als dann auch noch zu guter Letzt das Mahlwerk der Maschine sich ganz offensichtlich ohne Kaffeebohnen drehte und er sich bücken musste, um ganz hinten im Unterschrank zwischen Nudelpackungen, Fischkonserven und Müslitüten nach einer Packung Bohnen zu suchen und dann doch keine fand, beschloss er, dass das heute kein guter Tag sein werden könne. Als ihm dann noch einfiel, dass Rebekka sich neben den vielen Abreisesätzen auch mit dem Hinweis verabschiedet hatte, dass noch Kaffeebohnen eingekauft werden müssen, änderte sich seine Laune von schlecht zu mürrisch; es gab niemanden, den er beschuldigen konnte.

         Es blieb ihm folglich nichts Anderes übrig als in der Küche im Souterrain des Gebäudes zu frühstücken, in dem er seit fünfzehn Jahren arbeitete. Er mochte die Küche nicht, sie erfüllte ihre Funktion, doch sie war düster, dunkel und wenig einladend.

         Als er das Haus verließ, begann es zu regnen und er wurde durch diesen Umstand in seiner Einschätzung bestärkt: kein guter Tag heute. Er durchschritt den Park, der seine Wohnung von der Arbeitsstelle auf der anderen Seite trennte. Er öffnete die Eingangstür, es war noch früh. Außer ihm und der Sekretärin war noch keine Menschenseele im Gebäude. Ihm war das recht, eigentlich vermied er Kontakte am Morgen; dass er ein Morgenmuffel sei, schien ihm keine angemessene Bezeichnung für sein Verhalten. Im Stillen nannte er das seine sozialphobische Seite – nicht besonders stark ausgeprägt – das wäre in seinem Metier auch eher hinderlich gewesen.

         Er wollte sich an der Sekretärin vorbeidrücken, um in die Küche im Untergeschoß zu gelangen. Doch sie hatte die Tür ins Schloss fallen hören und rief ihm ein deutlich vernehmbares »Guten Morgen, Herr Vollmann« zu. »Guten Morgen, Frau Youssef«, erwiderte er den Gruß, »was liegt an?«

         »Ihre Klientin wartet schon im Wartezimmer auf sie.«

         Er schaute auf seine Armbanduhr, es war erst Viertel vor Neun. Sie war eine viertel Stunde zu früh.

         Er beugte sich wie verschwörerisch nach vorne und flüsterte Frau Youssef zu: »Ist ja noch etwas Zeit, dann kann ich ja erst noch einen Kaffee trinken, hatte keine Bohnen mehr.«

         »Schon wieder nicht?«, schaute ihn Frau Youssef keck an. Und als er sich umdrehte und den Raum verlassen wollte, fügte sie hinzu: »Die wird Ihnen gefallen, die neue Klientin.«

         Er drehte sich um und neckte zurück: »Besser als Sie? Sie kann doch kaum jemand toppen.«

         Er wusste, dass er sie mit seinen Komplimenten in Verlegenheit brachte, sie, die eine exotisch zu nennende Schönheit war, sich jedoch selbst eher unansehnlich fand. Sie hatte ihm das vor einiger Zeit gestanden, als sie beide in der griechischen Gartenwirtschaft im nahe gelegenen Park ihre Mittagspause bei Gigantes, dicken weißen Bohnen in Olivenöl mit Zwiebeln, und grünen Peperoni, verbrachten. Sie war mit einem Marokkaner verheiratet und konnte die Vermutung nicht ganz von sich weisen, dass die Verbindung auch von ihrer Sorge um ihr Aussehen bestimmt war. Marokkaner haben eben andere und keinesfalls mitteleuropäische Schönheitsideale. Und da ihr verlässliche Klischees lieber waren als die schmerzhafte Beschäftigung mit ihrer Entwertung und deren Herkunft, hatte sie sich in ihrer Ehe mit einem gewissen Maß an Zufriedenheit eingerichtet. Zwei Kinder hatte sie bisher auf die Welt gebracht und ihre Fruchtbarkeit schien ein weiteres Stück Kompensation zu sein.

         Vollmann ging die Treppe hinunter, den langen Flur entlang, betrat die Küche, in der sofort der Bewegungsmelder die in der Decke angebrachten Halogenstrahler einschaltete. In der Thermoskanne hatte Frau Youssef bereits frischen Kaffee bereitgehalten. Er goss sich also eine Tasse ein, sog den Duft tief ein und trank den ersten Schluck.

         Vielleicht konnte der Tag ja doch noch gut werden.

         Bevor er die Treppe in den ersten Stock hinaufgehen konnte, winkte ihn Frau Youssef noch einmal zu sich und überreichte ihm den Bogen mit den Klientendaten: »So, jetzt können Sie hinaufgehen.«

         Als er um die Ecke bog, den Flur bis zum Wartezimmer durchschritt und schwungvoll die Tür öffnete, erblickte er die Klientin, die sich für ein Erstgespräch angemeldet hatte. Bei ihrem Anblick entglitt ihm die Türklinke und schlug laut gegen das hinter der Tür befindliche Regal, auf dem sich Prospekte von aus seiner Sicht zweifelhaften Veranstaltungen befanden, die unrealistische und illusionäre Heilsversprechen abgaben. Die ebenfalls dort für den Zeitvertreib der Wartenden bereitgestellten Bücher befanden sich in einem katastrophalen Zustand und brauchten dringend sowohl etwas Ordnung als auch einen Papierkorb.

         Doch das war jetzt nicht sein Problem, nicht in diesem Moment.

         Es hatte ihm die Stimme verschlagen und er brachte lediglich eine krächzende Entschuldigung hervor. Ganz offensichtlich hatte er die junge Frau erschreckt. Erst dann gelang ihm ein: »Guten Morgen, kommen Sie doch bitte mit mir.«

         Sie legte den Prospekt beiseite, in dem sie eher beiläufig geblättert hatte, stand auf und ging hinter ihm her: »Kommen Sie mir einfach nach.«

         Mit diesen Worten betrat er sein Therapiezimmer, wies ihr den Platz neben dem Fenster zu, schloss die Tür hinter sich, schaltete das Telefon stumm und setzte sich der Frau gegenüber.

         All diese Routineverrichtungen waren von einem Satz begleitet, den er stumm fortwährend wiederholte, die kannst du nicht nehmen, das geht auf keinen Fall. Da kommst du in Teufels Küche.

         Stattdessen schaute er auf den Klientenbogen, las ihren Namen und stutzte. Da stand Barbara Hohler.

         Barbara, das konnte doch nicht wahr sein, plötzlich war ihm sein Rhabarbertraum verständlich.

         Vor einer Woche hatte er den Anruf von Frau Hohler entgegengenommen und mit ihr ein Erstgespräch vereinbart. Barbara Hohler hatte sie sich gemeldet. Das erste was ihm auffiel, war ihre angenehme sonore Stimme und sofort hatte er in seiner Vorstellung ein Bild von einer gut aussehenden, hoch sympathischen Frau gebildet.

         Und dann in der Hektik der darauffolgenden Woche nicht mehr an sie gedacht. Offensichtlich bis heute Nacht.

         Und da saß sie jetzt vor ihm, leibhaftig und sie war nicht nur gut aussehend, nein, sie war eine außergewöhnlich attraktive Frau.

         Was ihn so sprachlos machte, war die Tatsache, dass sie genau dem Bild seiner Traumfrau entsprach, das er über die Jahre hinweg immer weiter vervollkommnet hatte.

         Er schämte sich für solche Spielereien. Eine Frau nur nach ihrem Äußeren zu beurteilen, das kam ihm so schäbig vor. Und gleichzeitig erinnerte er sich an den Film L.I.S.A, der helle Wahnsinn. Jugendliche hatten ihre Traumfrau am Computer entworfen.

         Vor einigen Jahren war er auf den Film aufmerksam geworden, als ein Jugendlicher, der sich mitten in der Pubertät befand, während einer Beratungssitzung den Film erwähnt und in höchsten Tönen davon geschwärmt hatte. Daraufhin hatte er sich den Film in einer Videothek besorgt. Bei der Ausleihe hatte er sich beschämt gefühlt und den Blick des Mannes hinter der Theke so verstanden, dass er doch wohl etwas zu alt sei für solche pubertären Spinnereien.

         Und in der Tat: Der Film war einfach nur langweilig. Zwei Jugendliche hatten herausgefunden, dass sie am Computer ihre Träume verwirklichen und eine Frau nach ihren Vorstellungen erschaffen konnten. Sie experimentierten an den Geräten herum, ein Rastermodell eines Körpers erschien auf dem Bildschirm, das sie beliebig manipulieren konnten. Die Brüste beispielsweise erschienen ihnen zu klein, also vergrößerten sie sie mit der Maus. Allerdings schossen sie in ihrer kaum zu zügelnden Ungeduld über das gewünschte Ziel hinaus, die Brüste ragten wie zwei konisch zulaufende Pfähle vom Körper ab. Sie korrigierten sie sofort auf das von ihnen gewünschte Maß. Stück für Stück schufen sie sich auf diese Weise einen Traumkörper. Als es dann um die knifflige Gestaltung des Gehirns ging, gerieten sie in Streit. Einer wollte eine dumme Frau, der andere eine hoch intelligente. Der Zweite setzte sich schließlich durch und so statteten sie ihr Geschöpf mit einer Kopie von Einsteins Gehirn aus.

         Doch das war ihr Fehler, sobald die Frau zu leben begann, wurde ziemlich schnell klar, dass sie nicht die geheimen erotischen Träume ihrer Schöpfer erfüllen würde. Was sollte eine erwachsene Frau, die mit dem Verstand eines Genies gesegnet war, schließlich mit zwei pickligen Jünglingen anfangen?

         Lächerlich fand er den Film, einfach nur lächerlich. Und dennoch beschäftige er ihn hin und wieder. Und er musste sich eingestehen, dass die Vorstellung eine makellose Frau zu erschaffen, die völlig unter seiner Kontrolle stand, etwas überaus Verführerisches hatte.

         Männerfantasien, sagte er sich dann, um diese Vorstellung auf etwas unabänderbar Genetisches herunterzuspielen und somit außerhalb jeder moralischen Bewertung stehend, Männerfantasien, nicht ernst zu nehmen, nette Spielereien.

         Jetzt allerdings, hier in seinem Beratungszimmer hatte ihn nicht die allgemeine Männerfantasie, sondern seine ganz eigene eingeholt. Vor ihm saß die Frau, die er, wenn es denn nun die Möglichkeit gegeben hätte, genauso erschaffen hätte.

         Oft genug hatte er diese Situation durchgespielt, alle Varianten durchdacht und war immer zum gleichen Ergebnis gelangt. Sollte jemals eine derart attraktive Frau sein Zimmer betreten, eine Frau, in die er sich über kurz oder lang verlieben würde, oder durch deren Äußeres, durch ihr Wesen derart abgelenkt fühlen würde, dass er kaum aufmerksam ihren Worten folgen könnte, dann würde er sie wieder wegschicken. Nein, nicht wegschicken, er würde sie an eine Kollegin oder einen Kollegen weiter verweisen. Irgendeine Entschuldigung murmeln, im Moment leider kurz- oder mittelfristig keine Termine frei, oder etwas Ähnliches, Hauptsache es wirkte einigermaßen glaubwürdig.

         Das war sein über die Jahre hinweg gewachsenes und gefestigtes Credo geworden. Was ihn jetzt beinahe erschütterte, ihn derart irritierte, war die Tatsache, wie fragil dieses Credo war; im Moment war er dabei, es über Bord zu werfen.

      Anmelden

      Passwort vergessen?