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      Die drei­zehn­jäh­ri­ge Ella lan­det 1941 in der Hei­ler­zie­hungs­an­stalt Kal­men­hof in Idstein, weil sie vor den sexu­el­len Über­grif­fen ihres Stief­va­ters geflüch­tet ist. Man hat­te ihr nicht geglaubt und das Jugend­amt Frank­furt hat­te ihre Ein­wei­sung ver­an­lasst. Ihr Bru­der Karl­heinz, geplagt von epi­lep­ti­schen Anfäl­len, zeit­gleich mit ihr ein­ge­wie­sen, wird ein Opfer der soge­nann­ten T4-Akti­on, der sys­te­ma­ti­schen Ermor­dung von geis­tig und kör­per­lich behin­der­ten Kin­dern bis zum Kriegs­en­de 1945. Die­ser Tod und die Begeg­nung mit der ver­ant­wort­li­chen Ärz­tin im Eutha­na­sie­pro­zess 1947 in Frank­furt bestim­men Ellas wei­te­ren Lebens­weg auf eine Wei­se, die Ella sich nicht hat vor­stel­len können.

      Taschen­buch 380 Seiten

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      Teil 1 - Das Heim

      Die Busse

         Eines Tages kamen die grauen Busse nicht mehr. Es war Ende August 1941. Bis zum Mittagessen hatte es noch niemand bemerkt. Ihre Ankunft und das große Durcheinander bei ihrer Einfahrt in den Hof der Heilerziehungsanstalt waren so sehr zur Selbstverständlichkeit geworden, dass keiner mehr hinhörte oder hinschaute. Das Gewimmel der rund 300 Kinder vor dem Haupthaus gehörte zum Alltag im Heim.

         Karlheinz saß wie immer neben Ella im Speisesaal. Sie wusste genau, dass er noch gestern zu ihr gesagt hatte, dass er am nächsten Tag mit dem Bus abgeholt werden sollte. Doch er war noch immer da, lebendig aber unscheinbar wie immer. Fast hätte man ihn übersehen können. »Der Bus war heute nicht da«, flüsterte er Ella zu. Binnen fünf Minuten hatte sich die Nachricht unter den Kindern im Saal herumgesprochen. »Hast du schön gehört?«, raunte es überall, »der Bus war heute nicht da!« Er war auch am nächsten und am übernächsten Tag nicht da. Dann fiel das Fehlen der ›Grauen‹ endlich auf. Es wusste zwar keiner genau, was deren Bestimmungsort war. Doch ging von den Bussen eine unheimliche Stimmung aus. Alle Fenster waren mit einer grauen Folie zugeklebt worden, damit niemand hineinschauen konnte. Die Kinder sollten aber auch nicht hinausschauen können, das hatte man als mitfühlende Geste gedacht. Es würde den Abschied erleichtern. An manchen Stellen hatten jedoch die Kinder, die mit ihnen abtransportiert werden sollten, kleine Gucklöcher geschaffen. So winzig, dass sie den scharfen Augen der Angestellten der GEKRA, der Gemeinnützigen Krankentransport Gesellschaft, entgingen. Manchmal kam auch ein grauer Bus, bei dem lediglich die ebenso grauen Vorhänge zugezogen waren. Grau waren die Busse immer.

         Einmal war Mathilde Weber in den GEKRA-Bus gekommen. Die Kinder waren ihr zu laut geworden, manche hatten neugierig und vorlaut die Vorhänge einfach beiseite gezogen und nach draußen gewunken. Andere hingegen saßen verängstigt in ihren Sitz gesunken. Aufregung und Angst hielten sich die Waage. Die Lauten wollte Mathilde Weber ansprechen. Jedes Kind kannte sie, sie war die leitende Ärztin in der Kinderfachabteilung. Sie ging in den Gang zwischen den Sitzen, schaute in die Runde. Sie zog eine Injektionsspritze aus ihrem Arztkittel, hielt sie hoch und sagte mit unüberhörbarer Stimme: »Seht mal, was ich hier habe, wenn ihr euch nicht anständig aufführt. Und die Vorhänge werden jetzt sofort wieder zugezogen.« Prompt kehrte Ruhe ein. Keines der Kinder wusste wirklich, was es mit der Drohung auf sich hatte. Doch das machte sie nur noch unheimlicher. Später sollte man erfahren, dass sie das ›Kurzspritzen‹ meinte. Die Kinder bekamen zur Bestrafung eine Injektion mit Apomorphin, ein Brechmittel, das häufig bei Vergiftungen eingesetzt wurde, um den Mageninhalt zu entleeren. Es löst heftiges Erbrechen und unerträgliches Übelsein aus. Was es mit dem Langspritzen auf sich hatte, das sollten die Kinder erst ab September 1941 erfahren.

         Keines der Kinder wusste, dass der Blick aus dem Fenster wahrscheinlich einer der letzten Blicke in die Freiheit war, auf das Blau des Himmels, auf das imposante Hauptgebäude des Heims und auf die anderen winkenden Kinder. Es sollte auf eine Exkursion, eine Fahrt ins Blaue gehen, so lautete die offizielle Verlautbarung. Seltsam waren nur die abgedeckten Fenster und dass keines der Kinder je von einem Ausflug zurückkam.

         Ella hielt das Fernbleiben der Busse für kein gutes Zeichen. Vor zwei Wochen noch wollte sie selber einen von ihnen besteigen. Sie wollte unbedingt herausfinden, wo sie hinfuhren. Für einen kurzen Moment hatte sie vergessen, dass keines der Kinder zurückgekommen war und sie hatte bereits die ersten Stufen erklommen. Die Stimme von Direktor Müller rief sie jedoch in die Realität zurück: »Ella, raus mit Dir, du hast hier nichts zu suchen, raus, aber sofort! Willst du etwa schon wieder weglaufen?«, knurrte er mit einer Stimme, die allen anwesenden Kindern einen Schrecken einjagte und sie zusammenzucken ließ. Er schaute auf das oberste Blatt eines Papierstapels, den er in den Händen hielt, suchte die Aufstellung der Kinder durch, die heute zu einem ›Ausflug‹ aufbrechen sollten. »Du stehst überhaupt nicht auf der Liste und du wirst auch nie draufstehen!« Erst sehr viel später wurde ihr klar, dass sie vielleicht beinahe die letzte Fahrt ihres Lebens angetreten hätte.

         Jetzt zog sie ihren Bruder Karlheinz, der wie immer beim Mittagessen neben ihr saß, zu sich heran, drückte ihn in einer Ahnung kommenden Unheils fest an sich und küsste ihn zärtlich auf sein Haar. »Ich werde dich beschützen, komme, was da wolle«, flüsterte sie in seinen blonden Schopf hinein. Ihre Mutter hatte immer wieder behauptet, dass sie ein starkes Mädchen sei. Und jetzt musste sie stark sein, für sich und für ihren Bruder.

         Karlheinz schob sie von sich, er mochte ihre besitzergreifende Zärtlichkeit nicht. Sie war schon immer so gewesen, doch seitdem sie hier waren, war es noch schlimmer geworden. Er schob sie von sich. Und setzte unwirsch hinzu: »Was soll denn schon passieren?«

         »Was weißt du denn schon, du bist ja noch grün hinter den Ohren.« Er war zwar drei Jahre jünger, aber das wollte er nicht auf sich sitzen lassen: »Du sollst mich nicht immer rumkommandieren, bloß, weil du schon 13 bist. Lass‘ mich endlich in Ruhe«, entgegnete er scharf.

         Sie kannte das schon, sein Aufbegehren, sein Abschütteln, daher erduldete sie es. Ihre Aufgabe war wichtiger als ein kleinlicher Disput. Sie musste ihn beschützen, das war sie ihm und ihrer Mutter schuldig.

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